This article is also available in English
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe.
- Teil 1: Gängige Methoden im Umfeld soziotechnischer Architekturen
- Teil 2: Plattformen, Teams und APIs: Wie passt das zusammen?
- Teil 3: Soziotechnische Architektur als Wettbewerbsvorteil
- Teil 4: Vergesst die Menschen nicht
- Teil 5: Wieviel Denken erträgt ein Team?
- Teil 6: Interne Entwicklungsplattformen – Shift Down statt Shift Left
- Teil 7: Enabling von Stakeholdern als Erfolgsfaktor
- Teil 8: Soziotechnische Architekturen: Informalität vom Bergbau bis heute (dieser Artikel)
Damals dominierte das Menschenbild des „economic man“, bei dem der Mensch vor allem durch finanzielle Anreize motiviert werden konnte. Der Fokus lag daher auf Bezahlung, Prämien und Akkordarbeit. Etwa 20 bis 30 Jahre später änderte sich dieses Bild hin zum „social man“. Nun standen soziale Beziehungen und Führungsstile im Vordergrund, um Motivation und Zufriedenheit zu fördern.[2]
In dieser Zeit wurde in Großbritannien im großen Stil Kohle abgebaut. Die Kohlebergleute arbeiteten überwiegend in autonomen Gruppen, die ihre Arbeitsprozesse selbst organisierten. Trotz festgelegter Sicherheitsprozesse hatten sie dabei viele Freiheiten. Ab den 1940er-Jahren veränderten sich die Arbeitsbedingungen jedoch durch mechanische Aufrüstung und Spezialisierung.
Die Arbeitsbereiche wurden größer, was die Kommunikation erschwerte, und die Entscheidungsfreiheit der Gruppen wurde stark eingeschränkt.[3]
Die Folge war ein Verlust der sozialen Bindungen und wachsende Konflikte. Produktivität und Arbeitszufriedenheit sanken. In den 1950er-Jahren zeigten Forschungen von Trist und Bamforth[4], dass die zunehmende Bürokratisierung und der Verlust informeller Prozesse die Effizienz negativ beeinflussten. Im Zuge dieser Forschung entstand der Begriff „soziotechnische Systeme“.
Was ist ein soziotechnisches System?
Ein soziotechnisches System ist ein komplexes Arbeitssystem, in dem technische und soziale Teilsysteme (Subsysteme) gemeinsam Aufgaben erfüllen.
Das technische Subsystem umfasst die Aufgaben sowie die unterstützende oder ausführende Technologie. Das soziale Subsystem beschreibt die Mitglieder, ihre Rollen und die Struktur, in der sie agieren. Das technische System schafft Rahmenbedingungen für das soziale, während das soziale System die Weiterentwicklung des technischen sichert.[5]
Was hat das mit uns zu tun?
Warum interessiert sich INNOQ eigentlich für die Geschichte des Bergbaus? Weil uns die Parallelen zu heutigen Organisationsstrukturen einiges beibringen. Früher arbeiteten Bergleute in festen Systemen – heute treten wir als externe Profis in die oft starren soziotechnischen Systeme unserer Kunden ein.
Wie die Bergleute damals, müssen auch wir uns an informelle Regeln und ungeschriebene Gesetze halten, die die Dynamik in Projekten stark beeinflussen können. Ein Beispiel aus unserer Praxis zeigt, wie solche informellen Strukturen in Entwicklungsprojekten sichtbar werden und wie sie unser Vorgehen prägen.
Fallbeispiel: Die interne Organisations-App
INNOQ wurde beauftragt, eine interne App für ein Unternehmen zu entwickeln, da sich das Arbeiten dort durch die Covid-Pandemie stark verändert hat. Die App soll als flexible Lösung die Arbeitsorganisation und internen Kommunikationswege an die neuen Bedingungen anpassen.
Folgende Bereiche sind davon betroffen und sollen in der App aufgegriffen werden:
Büroräume
Viele Kolleg:innen arbeiten zumindest zeitweise im Home Office oder sogar in anderen Ländern. Um diesem Umstand gerecht zu werden, ist das Unternehmen bereits in kleinere Büroräume umgezogen. Es gibt also de facto nicht mehr genügend Arbeitsplätze für alle. Die Geschäftsführung wünscht sich daher ein System, in dem Tische gebucht werden können.
Kantine
Ähnliche Herausforderungen gelten für die neue Kantine, die ebenfalls nicht auf eine große Menge an Menschen ausgelegt ist. Hier kommt es jedoch zu „Ballungszeiträumen“, in denen die Anzahl der Tische nicht ausreicht.
Kommunikation
Hinzu kommt, dass die interne Interaktion und der Austausch deutlich asynchroner geworden sind, da die Mitarbeitenden nicht mehr automatisch alle am gleichen Ort (und oft auch nicht in der gleichen Zeitzone) arbeiten.
Die Initiative für die App kam von der Geschäftsführung, nicht aus der Belegschaft, was bereits Herausforderungen birgt.
Informelle Strukturen
Dieser Wandel im Arbeitsalltag bringt informelle Strukturen ins Spiel, die das Unternehmen zwar nicht offiziell festgelegt hat, die aber dennoch fest im Alltag verankert sind. Solche Strukturen sind keine bewussten Vorgaben der Geschäftsführung oder des Betriebsrats, sondern entstehen durch eingespielte Praxis. Stefan Kühl spricht in diesem Zusammenhang von „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen"[6], die sich durch regelmäßige Praxis etabliert haben.
Es handelt sich also nicht um ein einmaliges Improvisieren – diese Strukturen ähneln vielmehr einem viel belaufenen Trampelpfad. Allerdings lassen sich zu diesem Trampelpfad nirgendwo dokumentierte Entscheidungen finden. Informelle Strukturen können sehr stabil und langlebig sein, sogar bestehen bleiben, wenn es Regelungen gibt, die ihnen entgegenwirken.[7]
In der Praxis wird zwischen Formalität und Informalität häufig hin- und hergesprungen. Tatsächlich profitieren Organisationen von Informalität. Wir alle kennen den Ausdruck „Dienst nach Vorschrift“, der nichts anderes bedeutet, als sich ausschließlich an die formalen Regeln zu halten. Diese Redewendung wird jedoch oft schon fast als Form des Protests verstanden.
Informelle Strukturen sind also keineswegs ausschließlich negativ für eine Organisation. Sie sind anpassungsfähig (im Gegensatz zur Technik), fördern Innovation und tragen maßgeblich zur Stimmung innerhalb des Unternehmens bei.
Was bedeutet dies für die App, die INNOQ entwickeln soll?
Zur Erinnerung: Informelle Strukturen befinden sich vor allem im unteren Teil, im sozialen Subsystem.
Die Mitglieder des Systems sind die Nutzenden der App – also die Mitarbeitenden und die Geschäftsführung des Unternehmens –, aber auch wir als externe Entwickler:innen. Diese Mitglieder agieren in formalen Strukturen und Rollen, wie Abteilungen oder Projektleitungen, die oft klar dokumentiert sind.
Daneben existieren informelle Strukturen, die nur langjährige Mitglieder kennen und die je nach Bereich stark variieren. Die Aufgabe, die von der Geschäftsführung gestellt wurde, besteht darin, die interne Arbeitsorganisation und Kommunikation durch die App zu unterstützen – auch wenn die Geschäftsführung selbst möglicherweise nicht alle informellen Abläufe überblickt.
Technologisch sollte die App die User in ihrer Arbeitsweise flexibel unterstützen, ohne unnötige Komplexität zu erzeugen. Sie muss funktionieren, ohne dabei Vorgänge zu starr vorzugeben. Hier spielt es eine entscheidende Rolle, wie die Software den Nutzenden erlaubt, Arbeitsprozesse intuitiv zu steuern und informelle, eingespielte Abläufe zu berücksichtigen.
Herausforderungen bei der Entwicklung der App
Die Anwendung formalisiert und bürokratisiert Vorgänge, die zuvor informell abliefen (z. B. das Finden eines freien Tischs im Büro oder Kommunikationswege). Erinnern wir uns an das Beispiel des Bergbaus: Auch dort wurden Prozesse formalisiert und festgelegt, als Maschinen ins Spiel kamen.
Wenn es nicht gelingt, informelle Strukturen in der App abzubilden, wird diese möglicherweise nicht akzeptiert. Sie wird dann nur im zwingend erforderlichen Maße genutzt, während die informellen Strukturen vermutlich weiter bestehen und eine Art Parallelexistenz führen.
Falls die Anwendung am Ende nicht genutzt wird, ist das Projekt gescheitert.
Es kann jedoch äußerst schwierig sein, Schattenprozesse – wie sie in der Literatur oft genannt werden – zu formalisieren. Das kann ein umfangreiches und kompliziertes Unterfangen werden,
da informelle Strukturen äußerst dynamisch und anpassungsfähig sind, was bei Technik häufig nicht der Fall ist.[9]
Informelle Prozesse sind häufig unsichtbar, da sie nicht dokumentiert sind, auf Beziehungen basieren und von subtilen Signalen beeinflusst werden.
Was tun?
Wie können wir als neue Mitglieder die informellen Strukturen erkennen, sodass wir in der Lage sind, diese bei der Entwicklung der App zu berücksichtigen?
1. Anforderungsanalyse:
Informelle Prozesse sind dynamisch und beruhen auf menschlichen Interaktionen. Um sie zu erfassen, sprechen wir nicht nur mit der Geschäftsführung, sondern vor allem mit den Nutzenden.
Methoden wie Soziomatrix, Soziogramm oder Collaborative Modelling helfen, Beziehungsnetze abzubilden und Fachwissen zusammenzuführen.
2. Systeme erweiterbar und flexibel bauen:
Die App muss flexibel gestaltet sein und Spielräume lassen. Die Entwicklung sollte nutzerzentriert und agil erfolgen, mit regelmäßigen User-Tests und Feedback.
Besonders hilfreich ist es, Nutzende in realen Szenarien zu beobachten, auch schon mit Prototypen. Erweiterbarkeit und flexible Nutzung sind entscheidend – auch wenn dies die UX komplexer macht. Evolutionary Architecture, Lean-Methoden und agile Entwicklungbieten hier wertvolle Ansätze.
3. User-Testing:
Feedback ist Gold wert. Prototypen und MVPs (Minimum Viable Products) sollten früh getestet werden – lange bevor es an die finale Umsetzung geht.
So lässt sich direkt prüfen, ob die Anwendung wirklich den Anforderungen entspricht und später gut angenommen wird. MVPs helfen, die wichtigsten Funktionen von Anfang an gezielt zu entwickeln, ohne das gesamte Produkt schon fertigstellen zu müssen.
Referenzen
[2] Prof. Dr. Simone Kauffeld, Dr. Nils Christian Sauer (2019): Vergangenheit und Zukunft der Arbeits- und Organisationspsychologie. Springer Berlin Heidelberg.
[3] Trist, E. L., & Bamforth, K. W. (1951): Some social and psychological consequences of the Longwall method of coal-getting. Human Relations, 4(1)
[4] Tom Galvin, Pedro Monteiro, Miranda Lewis, Joe Bradley (2017): Sociotechnical Systems – Trist and Bamforth. Talking About Organizations Podcast, Folge 34
[5] Sutter, Anke et al. (2021): Soziotechnische Systeme: Der Mensch in der Industrie 4.0
[6] Kühl, Stefan (2010): Informalität und Organisationskultur – Ein Systematisierungsversuch. Working Paper 3/2010
[7] Tretschok, Katja (2019): Die Relevanz von informellen Strukturen innerhalb von Organisationen. Masterarbeit, Hochschule Mittweida, Fakultät Soziale Arbeit
[8] Wikipedia: Soziotechnisches System. Bearbeitungsstand: 08.11.2024
[9] Sutter, Anke et al. (2021): Soziotechnische Systeme: Der Mensch in der Industrie 4.0
[10] Kühl, Stefan (2010): Informalität und Organisationskultur – Ein Systematisierungsversuch. Working Paper 3/2010