Eskalation und…

Wer häufig im Austausch mit anderen steht, kennt mit großer Wahrscheinlichkeit Situationen wie die folgende, sowohl als beobachtende also auch als beteiligte Person:

Es gibt eine Diskussion über einen Sachverhalt. Person A stellt eine Frage zu diesem Sachverhalt. Person B empfindet diese Frage als unpassend und antwortet mit einem für sie schlüssigen Argument, das sie aus ihren Erfahrungen ableitet. Person A widerspricht diesem Argument, ohne das aus Sicht von Person B weiter zu begründen.

Das ist eine sehr abstrakte Beschreibung für ein Alltagsphänomen, das im sozialen Austausch ständig vorkommt. Spannend ist an dieser Stelle, was Person B macht, denn ihr obliegt die Entscheidung über die Handlungsoptionen. In den meisten Fällen wird Person B emotional reagieren und die Sachebene verlassen. Das kann passieren durch:

Wichtig ist an dieser Stelle, dass sich Person B ihrer emotionalen Reaktion nicht bewusst ist – die emotionale Handlung wird bei Person A gesehen.

… Optionen

Die Optionen für Person A sind begrenzt: Entweder aussteigen oder auf den Konflikt reagieren. Aussteigen vermeidet den persönlichen Konflikt und erscheint auf den ersten Blick das Klügste. Es kann allerdings dysfunktional sein, wie später noch diskutiert wird. Es klappt auch nicht immer, die Zweckmäßigkeit des Ausstiegs zu erkennen.

Manche Menschen haben hinsichtlich solcher Entwicklungen auch einen blinden Fleck, was ihnen dann unter Umständen zum Nachteil gereicht wird. Reagiert Person A auf den Konflikt, ist sie in der ungünstigeren Position, weil ihr nicht bewusst ist, dass Person B die Ebene gewechselt hat. Im ungünstigsten Fall versucht Person A weiterhin, in der Sache zu argumentieren, und heizt damit die emotionale Stimmung weiter an.

Wirkliche Optionen, über den weiteren Verlauf zu entscheiden, hat nur Person B. Person B könnte sich entscheiden, die Reaktion von Person A als Trollversuch zu bewerten und nach dem Schema zu handeln: Don‘t feed the Troll. Damit kann sie für sich einen befriedigenden Ausweg konstruieren, denn sie handelt klug (der Trollversuch scheitert) und konsistent zu ihrem emotionalen Erleben (mein Ärger war berechtigt).

Alternativ kann sie sich auch dafür entscheiden, ihren Ärger infrage zu stellen: Was wären alternative Interpretationen der unpassenden Frage, die nicht zu Ärger führen würden? Da finden sich eine ganze Menge (aus der Perspektive von Person B geschrieben):

Diese Alternativen erfordern eine Selbstbetrachtung, die mit dem Infragestellen der eigenen emotionalen Reaktion verknüpft ist. Weil so eine Selbstbetrachtung Zeit benötigt und anstrengend ist, kommen diese Alternativen häufig nicht zum Zug. Die Folge ist, dass damit ein Konflikt zwischen zwei Menschen eskaliert, die sich eigentlich nichts Böses wollen.

Dysfunktionalität wider Willen

Es mag der Hektik unserer Zeit geschuldet sein, dass diese Art von Konflikten so häufig vorkommt und so schnell eskaliert, weil sie für den alternativen Umgang mit der eigenen emotionalen Reaktion keine Zeit mehr lassen. Es mag ebenso der Hektik unserer Zeit geschuldet sein, dass die praktizierte Strategie dann häufig darin besteht, solche Eskalationen a priori vermeiden zu wollen.

Die Vermeidung führt zu zwei möglichen Konsequenzen. Es kann einerseits passieren, dass sich die nicht geklärten Konflikte aufstauen und irgendwann entladen werden. Wenn das passiert, ist es meistens ohne fremde Hilfe nicht mehr zu schaffen, den Konflikt zu lösen, weil sich eine Gemengelage an Konflikten gebildet hat, die man kaum mehr auseinanderhalten kann. Das wird umso schwieriger, wenn in das Konfliktsystem nicht nur zwei Personen involviert sind, sondern mehrere.

Frei nach Watzlawick – der, der einen Hammer will, brüllt nicht mehr den Nachbarn an, der den Hammer hat, sondern die Verkäuferin am Kiosk an der Ecke, weil der Nachbar jemanden kennt, der dort auch einkauft.

Andererseits kann es passieren, dass es still wird: Konflikte vermeiden bedeutet, Kommunikation vermeiden, was sicherlich nicht im Sinne der Beteiligten ist.

„The biggest concern for any organization should be when their most passionate people become quiet.“ Tim McClure

Auch wenn dieses Zitat aus einem anderen Kontext stammt, hat Tim McClure das Problem damit auf den Punkt gebracht: Egal, wie man es dreht, künstliche Konfliktvermeidung ist im Kontext von Organisationen nicht hilfreich.

Psychologische Unsicherheit

Wie bereits erwähnt, wird die Problematik zwischenmenschlicher Konflikte gerne im Zusammenhang mit psychologischer Sicherheit diskutiert. Der Einfachheit halber soll psychologische Sicherheit hier als ein Zustand definiert werden, in dem sich die Menschen in einer Organisation keine Sorgen über Sanktionen machen müssen, wenn sie einen Fehler machen. An etlichen Stellen wird damit auch verbunden, dass Menschen sich frei äußern dürfen, ohne dass dies Konsequenzen für sie hat, und ihnen, wo immer nötig, Unterstützung zuteilwird.

Und genau an diesem Punkt kollidieren Konflikte wie der vormals beschriebene mit dem landläufigen Verständnis psychologischer Sicherheit. Im beschriebenen Konflikt hat Person B die Frage von Person A als unangemessen empfunden und reagierte emotional auf deren Widerspruch. Neben der Betrachtung des Konflikts zweier Menschen können die oben beschriebenen Reaktionsmuster auch in Hinsicht auf psychologische Sicherheit aus der Perspektive der Organisation betrachtet werden.

Beziehungsebene

Beim Wechsel auf die Beziehungsebene („du sagst mir, dass ich doof bin“) ist interessant, wie das Machtverhältnis zwischen Person A und Person B ist.

Gibt es kein Machtgefälle zwischen den beiden und lösen die beiden den Konflikt gemeinsam auf, ist das in Hinsicht auf psychologische Sicherheit positiv. Es entsteht ein Bild, das zeigt, dass ein erfolgreiches Auflösen von Konflikten möglich ist.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die beiden den Konflikt nicht selbst auflösen können. Dann spielt sowohl die Richtung des Machtgefälles eine Rolle als auch, wie mit dem Konflikt vonseiten der Organisation umgegangen wird. Prinzipiell gilt, dass die Organisation ein Interesse daran haben sollte, bei solchen Konflikten keine Fronten entstehen zu lassen, und verhindern sollte, dass sich weitere Personen einklinken.

Das Machtgefälle ist ab dem Zeitpunkt interessant, wo die mächtigere der beiden Personen ihre Macht einsetzt, um den Konflikt zu beenden – dabei ist es irrelevant, ob es sich um formale oder informelle Macht handelt – denn dann wurde der Konflikt nicht in der Sache, sondern qua Macht entschieden.

Für psychologische Sicherheit ist das ein zweischneidiges Schwert: Einerseits wird klar, dass ein Konflikt jederzeit beendet werden kann, andererseits, dass es dazu Macht benötigt. Dazu kommt die Erkenntnis, dass der eigentliche Sachverhalt für die Beendigung eines Konflikts keine Rolle spielt.

Keine gute Voraussetzung für Leute mit wenig Macht, sich in potenzielle Konflikte zu begeben.

Metaebene

Sollte Person B auf die Metaebene wechseln („dieser Tonfall ist unangemessen“), sind die Folgen praktisch identisch, werden aber um einen erzieherischen Aspekt verstärkt. Das kann im sozialen Miteinander, insbesondere aber in Organisationen, fatale Folgen haben.

Hier wird zunächst in der Eskalation des Konflikts ein Fehlverhalten von Person A angeführt. Dieses Fehlverhalten beruht aber zunächst nur auf einer Interpretation von Person B. Da der Konflikt bereits läuft, ist eine objektive Feststellung, ob es wirklich ein Fehlverhalten war, praktisch kaum mehr möglich. Jeder Versuch von Person A, ihre Aussage zu erklären, wird als Ausrede erscheinen und in der weiteren Kommunikation entsprechend behandelt.

Person A hat an dieser Stelle keine Chance mehr, ohne Makel aus dem Konflikt zu gehen. Erklärt sie sich nicht, wird dies als Eingeständnis interpretiert, erklärt sie sich, wird die Erklärung als Ausrede angesehen.

Von der Metaebene führt praktisch kein Weg mehr zurück auf die Sachebene. Für die psychologische Sicherheit in einer Organisation ist das fatal. Insbesondere dann, wenn zwischen Person B und Person A ein Machtgefälle existiert, in dem Person B höher steht. Die Botschaft ist: Wer widerspricht und missverstanden wird, wird erzogen. Umgang mit erwachsenen Menschen funktioniert so nicht.

Schritt zur Seite

Der Schritt zur Seite („wenn du mir so widersprichst, trauen sich andere nicht mehr, etwas zu sagen“) ist praktisch die schlimmste Variante. Sobald Person B die namens- und gesichtslosen Anderen in den Konflikt zieht, erzeugt sie ein Machtgefälle qua Masse. Dabei ist es egal, ob diese Masse wirklich existiert oder nur herbeigeredet wird. Im Konflikt wirkt sie gegen Person A als Mob, gegen den eine Verteidigung durch Erklärung vollkommen unmöglich ist, da dieser Mob ja nur eine namens- und gesichtslose Masse ist.

Für Organisationen ist das hochgradig kritisch, weil hier ein zerstörerisches Muster demonstriert wird. Person B wird den Konflikt in diesem Fall siegreich verlassen, die Sachfrage spielt dabei keine Rolle mehr. Und Person B hat sich sogar um die Organisation verdient gemacht, denn sie hat Schwächere geschützt. Dass dieser Schutz praktisch gar nicht stattgefunden hat oder sogar die Gruppe der Schwächeren gar nicht existiert, spielt in dem Moment fatalerweise keine Rolle.

Die Konsequenz daraus ist paradoxerweise genau das Gegenteil dessen, was Person B zu tun vorgibt: Statt sich gestärkt zu fühlen, werden sich Menschen mit kritischen Fragen deutlich zurückhaltender äußern. Denn jedes Wort will gut überlegt sein, damit nicht die „Anderen“ entmutigt werden, etwas zu sagen. Doch genau das passiert in diesem Moment: Die Person, die sich ihre Worte gut überlegt, ist so eine „Andere“. Ihre Entmutigung bemerkt aber niemand – denn wer nichts sagt, kann nicht gehört werden.

Psychologische Sicherheit

Die drei beschriebenen Phänomene sollten alle Menschen kennen, die an Kommunikation in Organisationen teilnehmen. Insbesondere gilt das aber für Personen, die in einem Machtgefälle mit anderen höher stehen. Sie sollten ein wachsames Auge darauf haben, wie Kommunikation in einer Organisation läuft und wie sie mit den oben beschriebenen Szenarien umgehen können.

Prinzipiell ist das, was Person B im Schritt zur Seite zu tun vorgibt, nämlich gut! Es muss nur anders ablaufen: Damit die „Anderen“ das Gefühl haben, sich frei äußern zu können, dürfen sie nicht als Argument missbraucht werden.

Die anderen müssen sehen, dass Führungskräfte ihnen zur Seite stehen, wenn entweder eine größere Menge an Menschen gegen sie steht oder wenn sie sich im Konflikt mit Menschen befinden, den sie nicht selbst auflösen können.

Wichtig ist: Solange der Konflikt um die Sache besteht, bedarf es keinerlei Eingreifens. Sobald aber eine Konfliktpartei in eines der eingangs beschriebenen Muster verfällt, sollten Menschen, die den Konflikt wahrnehmen, nicht einer Seite zu Hilfe eilen, sondern die offene Frage stellen: Wie kann ich euch helfen? Das gilt insbesondere für Führungskräfte.

Entscheidend ist dabei das Wörtchen „Wie“; wird es weggelassen, lautet die Antwort in der Regel „Nein“. Eine der nützlichsten Fragen, um eine Klärung herbeizuführen, ist sicherlich: Wie hätte es denn noch gemeint sein können? Diese Frage an Person B gerichtet, führt dazu, wieder über Möglichkeiten nachzudenken. Person A kann diese Frage aber aus offensichtlichen Gründen nicht stellen.

Dieser Weg und die Fragen sind natürlich nur einer unter vielen Möglichkeiten. Er soll nur eine Inspiration sein, wie man die paradoxen Effekte, die aus einem falschen Verständnis psychologischer Sicherheit entstehen, vermeiden kann.

Am Ende gilt: Nur worüber man spricht, kann auch gesprochen werden.