Ihr habt wahrscheinlich schon einmal den verwirrenden und scheinbar chaotischen Umgang mit Sticky Notes während EventStorming-Workshops erlebt. Angesichts der Flut von Domain Events fragt man sich: „Wo soll ich überhaupt anfangen, um hier einen Sinn zu erkennen?“ An dieser Stelle kommt die Identifizierung von Pivotal Events ins Spiel. Dabei handelt es sich nicht um beliebige Ereignisse, sondern um bedeutende Veränderungen, wichtige Entscheidungen oder kritische Zustandsänderungen innerhalb des Geschäftsprozesses, den wir untersuchen.

Am besten stellt Ihr Euch Pivotal Events als das Rückgrat der Storyline einer Domäne oder eines Geschäftsprozesses vor. Es sind die Momente, die wirklich zählen, die einen Dominoeffekt über die gesamte Domäne oder sogar ihr soziotechnisches System haben. Sie effektiv zu erkennen, ist entscheidend für das Verständnis des gesamten Arbeitsflusses, die Identifizierung von Engpässen und letztendlich für die Gestaltung besserer soziotechnischer Systeme, die darauf abzielen, Teams, Software und Domänen aufeinander abzustimmen.

Heuristiken zur Identifizierung von Pivotal Events

Wie finden wir nun diese Pivotal Events inmitten all der Domain Events an der Wand? Hier sind einige Heuristiken, die mir in vielen vergangenen Workshops geholfen haben.

  1. Ereignisse, die bedeutende nachgelagerte Aktivitäten auslösen
  2. Ereignisse, die wichtige Geschäftsentscheidungen oder die Durchsetzung von Richtlinien darstellen
  3. Ereignisse, welche Übergaben an externe Parteien beinhalten
  4. Ereignisse, die zu dauerhaften Zustandsänderungen führen
  5. Ereignisse, die auf potenzielle Engpässe oder Fehlerquellen hinweisen
  6. Compliance und regulatorische Bedeutung
  7. Änderungen in der Ressourcenzuweisung
  8. Auswirkungen auf mehrere Stakeholder
  9. Hohe Realisierungswahrscheinlichkeit von Geschäftszielen

Lasst uns diese Heuristiken im Folgenden etwas genauer betrachten.

1. Auslösung bedeutender nachgelagerter Aktivitäten:

  • Der So-what-Test: Wenn ein Domain Event in die Zeitachse eingefügt wird, fragt Euch: „Was passiert als Nächstes aufgrund dessen?“ Wenn die Antwort eine Kaskade von nachfolgenden Events, Commands oder Policies beinhaltet, habt Ihr wahrscheinlich einen Kandidaten für einen Pivotal Event gefunden. Diese Events fungieren als Auslöser und lösen eine Kettenreaktion innerhalb des Geschäftsprozesses aus.
  • Berücksichtigt dabei Systemreaktionen: Verursacht dieses Ereignis Reaktionen oder Aktualisierungen in mehreren Systemen? Führt es zum Versenden von Benachrichtigungen, zur Transformation von Daten oder zu anderen bedeutenden Änderungen auf Systemebene? Dies sind starke Indikatoren für ein Pivotal Event.

2. Wichtige Geschäftsentscheidungen oder die Durchsetzung von Richtlinien:

  • Entscheidungspunkte: Sucht nach Ereignissen, die eine bewusste Entscheidung oder die Anwendung einer sehr wichtigen Geschäftsregel signalisieren. Beispielsweise stellen „Bestellung genehmigt“ oder „Kreditantrag abgelehnt“ wichtige Entscheidungspunkte dar, die den weiteren Verlauf eines Prozesses erheblich beeinflussen.
  • Richtlinienanwendung: Ereignisse, die auf die Durchsetzung einer fachlichen Richtlinie hinweisen, sind oft von entscheidender Bedeutung. Denkt an „Rabatt gewährt“ oder „Compliance-Prüfung fehlgeschlagen“. Diese Ereignisse verdeutlichen, wie sich die Regeln und Vorschriften des Unternehmens auf den Arbeitsfluss auswirken.

3. Übergaben an andere Parteien:

  • Überschreitung von System- oder Organisationsgrenzen: Ereignisse, die eine Interaktion mit einer externen Einheit (Kunde, Lieferant, andere Abteilung, ein System eines Drittanbieters) markieren, sind oft von entscheidender Bedeutung. Diese „Übergaben“ sind kritische Punkte der Kommunikation und potenzielle Reibungspunkte. Beispiele hierfür sind „Kreditantrag eingereicht“ (Übergabe vom Antragsteller an die Bank) oder „Zahlung eingegangen“.
  • Externe Auslöser: Ereignisse, die von externen Systemen oder Akteuren initiiert werden, können manchmal ebenfalls pivotal sein, da sie häufig interne Prozesse in Gang setzen. „Bestand vom Lieferanten aktualisiert“ ist ein gutes Beispiel dafür. Seid an dieser Stelle jedoch bitte kritisch: Nicht jede kleinste Integration mit einem externen System stellt ein Pivotal Event dar.

4. Dauerhaften Zustandsänderungen:

  • Signifikante Datenaktualisierungen: Ereignisse, die zu dauerhaften und wichtigen Änderungen an wichtigen fachlichen Entitäten führen, sind wahrscheinlich pivotal. „Kundenkonto erstellt“ oder „Produktbestand verringert“ sind Ereignisse, die den Zustand des Systems grundlegend verändern.
  • Meilensteine in einem Prozess: Berücksichtigt Ereignisse, die wichtige Meilensteine in einem längeren Geschäftsprozess darstellen. In einem Software-Entwicklungslebenszyklus ist beispielsweise „Release in Produktion bereitgestellt“ ein Pivotal Event.

5. Potenzielle Engpässe oder Fehlerquellen:

  • Konfliktpunkte: Gibt es Ereignisse, die immer wieder zu Diskussionen über Verzögerungen, Fehler oder Nacharbeiten führen? Dies könnten Pivotal Events sein, die Bereiche aufzeigen, die genauer untersucht und möglicherweise verbessert werden müssen. Hier wäre ich aber sehr zurückhaltend und kritisch, da man diese auch als Hotspot markieren kann. Ich würde dies unter Berücksichtigung des Kontexts des jeweiligen Workshops entscheiden. Ist der Kontext beispielsweise die Analyse für die Optimierung des Arbeitsflusses von Teams kann diese Heuristik durchaus hilfreich sein. Beim Finden von Zuständigkeitsgrenzen von Teams oder Software-Modulen würde ich diese Heuristik eher ignorieren.
  • Ausnahmebehandlung: Ereignisse, die einen Fehlerzustand oder eine Abweichung vom Happy Path signalisieren („Zahlung fehlgeschlagen“, „Versand verzögert“), sind entscheidend für das Verständnis der Ausfallsicherheit und potenzieller Schwachstellen des Systems.

6. Compliance und regulatorische Bedeutung:

  • Die „Must-Do“-Ereignisse: Ereignisse, die mit gesetzlichen oder regulatorischen Anforderungen verbunden sind, sind fast immer von entscheidender Bedeutung. Sie stellen nicht verhandelbare Aspekte des Geschäfts dar, die bei unsachgemäßer Handhabung schwerwiegende Folgen haben können.
  • Beispiele: Denkt an Ereignisse wie „KYC (Know Your Customer)-Überprüfung abgeschlossen“, „Datenschutzzustimmung eingeholt“ oder „Regulatorisch benötigter Bericht erstellt“. Diese Ereignisse lösen häufig bestimmte Prozesse und Audits aus, was ihre zentrale Bedeutung unterstreicht.
  • Verbindung zu bestehenden Heuristiken: Diese Ereignisse lösen häufig bedeutende nachgelagerte Aktivitäten aus (z. B. weitere Verarbeitung nach KYC) und können externe Akteure (die Aufsichtsbehörden) involvieren.

7. Änderung der Ressourcenzuweisung:

  • Signalisierung von Prioritäts Verschiebungen: Ereignisse, die eine erhebliche Verschiebung von Ressourcen (Personal, Zeit, Budget) erfordern, deuten auf einen Moment hin, in dem sich die Prioritäten oder der operative Fokus der Organisation ändern.
  • Beispiele: Denkt Sie an Ereignisse wie „Projekt genehmigt“, „Budget für neue Initiative umgeschichtet“ oder „Notfallteam aktiviert“. Diese Ereignisse lösen konkrete Maßnahmen aus und haben greifbare Auswirkungen auf die Arbeitsweise der Organisation.
  • Verbindung zu bestehenden Heuristiken: Diese Ereignisse stellen oft wichtige Geschäftsentscheidungen dar und können sich auf mehrere Stakeholder in verschiedenen Teams auswirken, die nun ihre Arbeit aufgrund der Ressourcenverlagerung anpassen müssen.

8. Auswirkungen auf mehrere Stakeholder:

  • Übergreifende Belange: Ereignisse, die Reaktionen oder nachgelagerte Maßnahmen in mehreren Abteilungen auslösen oder verschiedene Stakeholder betreffen, sind gute Kandidaten für Pivotal Events. Sie stellen Verbindungspunkte innerhalb der Organisation dar.
  • Beispiele: „Neues Produkt eingeführt“, was sich auf Vertrieb, Marketing, Support und möglicherweise auch auf den Betrieb auswirkt. Oder „Schwerwiegender Vorfall gemeldet“, was die IT, den Kundendienst und die Öffentlichkeitsarbeit betrifft.
  • Verbindung zu bestehenden Heuristiken: Diese Ereignisse lösen eindeutig bedeutende nachgelagerte Aktivitäten in verschiedenen Teilen der Organisation aus und beinhalten oft Interaktionen oder den Austausch von Informationen zwischen verschiedenen Stakeholdern.

9. Hohes Potenzial zur Realisierung eines hohen Geschäftswerts:

  • Fokus: Ereignisse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen erheblichen geschäftlichen Nutzen signalisieren, insbesondere in Bezug auf die Umsatzgenerierung.
  • Das “Wertschöpfungssignal“: Deutet dieses Ereignis stark auf die bevorstehende Realisierung erheblicher Einnahmen hin?
  • Beispiel: „Autokonfigurationscode beim Händler vorgelegt“. In der Automobilindustrie bieten viele Hersteller Online-Konfiguratoren für Fahrzeuge an. Wenn ein potenzieller Kunde Zeit damit verbringt, sein Wunschfahrzeug zu konfigurieren, und dann den daraus resultierenden eindeutigen Code zu einem physischen Händler mitbringt, deutet dies auf eine sehr hohe Kaufabsicht hin. Dieses Ereignis ist von entscheidender Bedeutung, da es in der Regel zu gezielten, hochwertigen Interaktionen mit dem Verkaufspersonal, zu Probefahrten und zu einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit des Abschlusses eines Kauf- oder Leasingvertrags führt (wobei die Conversion-Rates in dieser Phase oft besonders hoch sind). Die in die Online-Konfiguration investierten Ressourcen und die physische Präsenz des Kunden im Autohaus machen dies zu einem entscheidenden Punkt im Verkaufsprozess mit hohem Umsatzpotenzial.

Tipps zum Facilitating, um Pivotal Events aufzudecken:

  • Ermutigt die Teilnehmer:innen zu Fragen wie „Warum?“ und „Was passiert als Nächstes?“. Wenn die Teilnehmer:innen Domain Events platzieren, ist es ratsam, deren Bedeutung behutsam zu hinterfragen, indem Ihr die genannten Fragen stellt. Dies hilft, die nachgelagerten Auswirkungen und zugrunde liegenden Entscheidungen aufzudecken. Die Facilitation-Technik der “Five Whys” kann dabei hilfreich sein.
  • Scheut Euch nicht, Fragen zu stellen: Wenn ein Ereignis unbedeutend erscheint, bittet die Gruppe höflich, dessen Bedeutung zu erläutern. Dies kann helfen, dessen Rolle zu klären oder festzustellen, ob es sich tatsächlich um ein Pivotal Event handelt.
  • Dreht die Sticky Notes mit den Pivotal Events um 45 Grad: Natürlich wollen wir kein wertvolles Klebeband verschwenden, um unzählige Pivotal Events zu markieren, die wir dann später wieder entfernen. Für die ersten Iterationen und Diskussionen drehe ich die Pivotal Events oft um 45 Grad, um die Diskussionen am Laufen zu halten und den Fokus zu behalten.

Über die Identifizierung hinaus: Der Wert von Pivotal Events

Sobald Ihr die Pivotal Events identifiziert habt, bekommt Ihr ein viel klareres Verständnis der Domain und eine viel größere Ordnung auf der Modellierungsfläche. Dies ermöglicht Euch Folgendes:

  • Priorisierung von Design-Arbeit: Es ist ratsam, sich beim Entwurf zuerst einmal auf die Bereiche zu konzentrieren, die diese Pivotal Events umgeben. Ich schätze beispielsweise die Heuristik, dass „ein Pivotal Event wahrscheinlich an der Grenze einer Subdomain liegt“ sehr.
  • Identifikation wichtiger Abhängigkeiten: Pivotal Events helfen Euch dabei, eine Verständnis aufzubauen, wie verschiedene Teile des Systems durch diese miteinander verbunden sind. Auch hier möchte ich noch einmal auf die Heuristik „Ein Pivotal Event liegt wahrscheinlich an der Grenze einer Subdomain“ hinweisen.
  • Vertiefte Diskussionen ermöglichen: Pivotal Events dienen als Aufhänger für detailliertere Gespräche über spezifische Geschäftsregeln, Datenanforderungen und potenzielle Risiken.
  • Eine aussagekräftige Erzählung erstellen: Die Abfolge der Pivotal Events bildet die übergeordnete Geschichte des Geschäftsprozesses.

Durch die Anwendung dieser Heuristiken und die Förderung einer kollaborativen Arbeitsumgebung könnt Ihr Komplexität effektiv bewältigen und wertvolle Einblicke in Eure Domäne gewinnen.

Weitere Ressourcen: