Fakt: Code ist das Endprodukt, nicht der Anfang
Software entsteht selten, nur weil jemand einfach Lust hatte, etwas zu coden. Jede Zeile, jede Klasse, jedes Modul und jede Software ist das Ergebnis einer langen Vorgeschichte von Entscheidungen. Am Anfang stehen Menschen mit Zielen, Erwartungen und Problemen, die durch eine Lösung adressiert werden sollen. Aus diesen Zielen entwickeln sich konkrete Bedürfnisse, die ein Unternehmen in eine Vision übersetzt. Diese Vision beschreibt, wie Technologie helfen kann, die Bedürfnisse zu erfüllen und den Menschen dahinter echten Mehrwert zu bieten. Aus der Vision leiten sich Praktiken und Vorgehensweisen ab, die sich zu Routinen und Prozessen verfestigen. Sie konkretisieren, wie die Vision im Alltag gelebt und umgesetzt wird.
Erst dann entstehen die gewünschten Funktionen, die schließlich im Code einer Softwarelösung Ausdruck finden. Der Code konserviert daher nicht nur Funktionen, sondern auch die dahinter liegenden Denkweisen und Arbeitsmodelle, die auf Basis von vielen Entscheidungen entstanden sind. Wer diese übergeordneten Ebenen ignoriert, poliert im schlechtesten Fall lediglich Strukturen, die keinen Wert mehr stiften. Modernisierung, die nur am Code ansetzt, behandelt Symptome und verstellt den Blick auf die eigentlichen Problemfelder, die ein Unternehmen an seine Vergangenheit binden.
Problem: Beschleunigung des Falschen
Peter Drucker brachte es auf den Punkt: „Es gibt nichts Nutzloseres, als effizient das zu tun, was überhaupt nicht getan werden sollte.“ Die neuen KI-Werkzeuge sind mächtig, keine Frage. Ich bin ein großer Befürworter von KI-gestützter Softwaremodernisierung, weil sie Optionen eröffnet, die früher weder technisch möglich noch wirtschaftlich waren. Heutige Entwicklungswerkzeuge können Code schnell verständlicher machen, in andere Programmiersprachen übersetzen oder Migrationen in moderne Architekturen unterstützen. Das klingt nach Effizienzgewinn und Fortschritt. Setzen wir den Einsatzrahmen jedoch zu früh zu eng, beantworten diese Werkzeuge nur eine begrenzte Frage: Wie machen wir den bestehenden Code besser? Wichtige, entscheidende Fragen müssen aber davor stehen: Brauchen wir diesen Code überhaupt noch? Erfüllt er ein aktuelles Bedürfnis? Nur teilweise? Wo nicht mehr? Oder bindet er im Extremfall nur Ressourcen, ohne realen Wert zu liefern? Wenn diese Fragen ausbleiben, entsteht nicht die erhoffte Innovation, sondern eine durch KI immens beschleunigte Entwicklung irrelevanter Systeme. Dabei kann KI weit mehr leisten, wenn wir sie anders einsetzen: Statt als eine reine Coding-Hilfe kann KI bei der Software-Archäologie auf unterschiedlichen Ebenen helfen. Was heute schon möglich ist, sind gezielte Analysen, die technische Muster und fachliche Konzepte sichtbar machen. Aber warum nicht auch implementierte Praktiken freilegen und alte Visionen rekonstruieren? Reverse Engineering bis hin zur Produktstrategieebene schafft eine umfassende Wissensbasis über die noch implizit vorhandenen Ideen, mit denen versucht wurde, die damaligen Bedürfnisse zu adressieren. Auch wenn die Gefahr besteht, dass zunächst fehlerhafte Annahmen entstehen, lässt sich mit geringem Aufwand bereits etwas Licht in das ansonsten undurchsichtige schwarze Loch namens Legacy System bringen, bevor völlige Lethargie einsetzt. Parallel erarbeitete neue Ideen (z. B. durch begleitende Modernisierungs-Workshops mit Elementen aus dem strategischen Domain-driven Design oder Wardley Mapping) lassen ergänzend ein neues Zielbild entstehen, mit dem aktuelle Bedürfnisse erfüllt werden sollen. Durch diese Kombination aus menschlicher Intelligenz (ja, diese wird immer noch benötigt!) und insbesondere der geschickten Nutzung von Large Language Models schafft der Vergleich zwischen Alt und Neu eine belastbare Diskussionsgrundlage, um die wirklich entscheidende Frage beantworten zu können: Ist das Softwaresystem überhaupt noch zeitgemäß?
Beispiel: Preisanpassung im E-Commerce
In den Anfangstagen eines E-Commerce-Shops passten die Verkäufer Preise manuell mit der Hand an, gestützt auf Erfahrung, Lagerbestände und einfache Kalkulationen. Später digitalisierte eine hierfür erstellte Software diese Tätigkeit. Preise konnten am Bildschirm geändert werden, doch der Prozess blieb im Kern der gleiche: manuell und arbeitsintensiv. Wenn nun der Wunsch nach einem modernen Dashboard entsteht, um diese manuelle Preisanpassungen noch effizienter zu machen, muss zuerst die Sinnfrage gestellt werden. Klar macht ein Dashboard Eingaben komfortabler, die Oberfläche sieht schicker aus und Daten können besser visualisiert werden. Dank KI lässt sich hier etwa auch mit Vibe Coding schnell ein Klick-Prototyp bauen und mit Agentic Software Engineering ohne großen Aufwand auch implementieren. All das ist heute machbar, aber optimiert bei näherem Hinsehen nur eine überholte Arbeitsweise. Denn das eigentliche Bedürfnis kann doch heutzutage nicht mehr lauten, Preise effizienter per Hand zu ändern. Das Bedürfnis heutiger Nutzer ist es, den optimalen Preis zu ermitteln, der Nachfrage, Umsatz und Wettbewerbsfähigkeit in Balance bringt. Eine Pricing Engine, die Regeln, Daten und Algorithmen nutzt, adressiert dieses Bedürfnis direkt. Ein modernisiertes Dashboard perfektioniert hingegen die Vergangenheit und erzeugt Modern Legacy: Ein technisch modernes Dashboard, das eine fachlich veraltete Vorgehensweise bedient.
Gefordert: Kritisches Nachdenken auf allen Ebenen
Modernisierung im Zeitalter von KI ist keine rein technische Aufgabe mehr, sondern eine strategische Führungsaufgabe, welche die Ebenen von Code zu Funktionen über Praktiken und Vision bis zu Bedürfnissen und den Menschen durchlaufen muss. Verantwortliche für die Modernisierung müssen prüfen, ob die ursprünglichen Bedürfnisse noch gelten, ob die Vision trägt, ob die Funktionen relevanten Wert stiften und zur aktuellen Unternehmensstrategie passen. Insbesondere technische Führungskräfte dürfen sich nicht im Code und KI-Buzzwords verlieren, sondern müssen den Blick auf die Unternehmensziele richten. Fehlt diese Prüfung, entstehen Systeme, die technisch zwar beeindrucken, aber geschäftlich wenig Mehrwert haben. Die Verantwortung der Führung liegt daher darin, Hilfsmittel aus der neuen Ära der künstlichen Intelligenz auf der richtigen Ebene einsetzen zu lassen. Zu früh auf Code-Ebene anzusetzen, ohne die darüberliegenden Ebenen zu hinterfragen, ist wie einen Motor eines Kleinwagens zu erneuern, obwohl nun ein Lieferwagen gebraucht wird, weil sich das Geschäftsmodell verändert hat.
Fazit: Mehr KI heißt nicht automatisch weniger Legacy
Large Language Models verändern im Verbund mit Agentic Software Engineering fundamental die Art, wie Software entsteht und modernisiert wird. Der Einsatz dieser Werkzeuge ist jedoch nicht mit einer nun einfachen und als gelöst zu sehenden Modernisierung gleichzusetzen. Technologische Exzellenz allein reicht nicht aus, um den Wert von IT-Systemen langfristig zu sichern und sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Die Leitfragen lauten daher nicht: Wie verbessern wir unseren Code mit KI? Sondern: Sollten wir diesen Code überhaupt noch haben? Würden wir das heute noch so umsetzen? Unterstützt der Code praktikable Arbeitsweisen in unserer Domäne? Erfüllt er die richtigen, aktuellen Bedürfnisse? Bringt er echten Mehrwert für die Menschen, die ihn in unserer Software nutzen? Nur wenn diese Fragen geklärt werden, lohnt sich der Einsatz moderner KI-gestützter Werkzeuge auf der richtigen Ebene. Andernfalls produziert man dank KI nicht weniger, sondern Legacy, welche zwar technisch beeindruckt, aber strategisch völlig irrelevant ist.
Vielen Dank an dieser Stelle an meine Kollegen Benjamin Wolf, Torsten Mandry und Joachim Praetorius für das Feedback zu einer früheren Version dieses Beitrags.
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