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In den 2000er Jahren sorgten die agilen Prinzipien und Praktiken, die im Agile Manifesto festgehalten wurden, dafür, dass sich die Entwicklung neuer Funktionalität deutlich beschleunigte. Mit der Verbreitung von Cloud-Anbietern und dem Aufkommen der DevOps-Bewegung beschleunigte sich auch die Zeit, die für das in Betrieb nehmen neuer Software sowie für das Ausrollen neuer Features benötigt wurde erheblich.

Organisationen, welche diese Praktiken übernommen haben und einer Kultur des Lernens und Experimentierens verinnerlicht haben, bringen zum Teil hunderte Mal pro Tag Änderungen in Produktion. Sie messen die Auswirkungen dieser Änderungen und können die Ergebnisse dieser Messungen schnell berücksichtigen. In Zeiten, in denen Time-to-Market stets an Bedeutung gewinnt und sich der Markt und die Geschäftsumgebung von großer Unsicherheit geprägt sind, ist es ein großer Wettbewerbsvorteil schnell auf solche unerwarteten Änderungen reagieren und Chancen, die sich ergeben, auszunutzen zu können.

Kein Wunder also, dass alt eingesessene Unternehmen, die sich schwer damit taten diese Prinzipien und Vorgehensweisen umzusetzen, von der Geschwindigkeit und der Anpassungsfähigkeit moderner Technologieunternehmen überrollt wurden.

Auch wenn die DevOps-Bewegung nun schon 15 Jahre alt ist, zeigt der DORA-Report 2024, dass eine Mehrheit der Befragten in Organisationen arbeitet, die nicht die Fähigkeiten haben, Änderungen schneller als innerhalb von einer Woche umzusetzen und auszurollen. Immerhin 25 Prozent arbeiten in einer Organisation, bei der Änderungen in vierzig Prozent der Fälle zu einem Fehler führen und es bis zu einem Monat dauert, solch einen Fehler zu beheben.

Die Übernahme von agilen Prozessen ist jedoch nicht ausreichend um die in den DORA-Reports gemessene Software Delivery Peformance zu verbessern ([1]: Forsgren et al., 2018). Technische Vorgehensweisen, eine Veränderung der Werte, Kultur und auch der Struktur einer Organisation, gehen Hand in Hand und verstärken ihre Wirkung gegenseitig — oder bremsen sie aus.

Die Realität: Viele Organisationen bleiben zurück

In der Praxis sehe ich häufig Organisationen, die technologisch viele Fähigkeiten aus dem DORA-Capability-Model mitbringen. Aufgrund mangelnder Anpassung der Organisation und der Prozesse können sie sich diese Fähigkeiten aber nicht wirklich zu Nutze machen.

Häufige Bremsen sind:

  • eine starre Sprintplanung mit Deployment zum Sprint-Ende
  • fehlende Autonomie und Cross-Funktionalität in den Teams
  • mangelhafte Kollaboration zwischen Fachexpertys und Entwicklungsteam: Der Fachbereich kippt Anforderungen rein und nimmt umgesetzte Features dann ab

Im schlimmsten Fall gibt es immer noch ein getrenntes Ops-Team, welches auf lokale Effizienz optimiert ist.

Was hat das mit AI zu tun?

Nun, das Versprechen agentischer AI, inbesondere von Agentic Software Engineering ist, dass Software noch schneller entwickelt werden kann. Unternehmen, die eine Kultur des Experimentierens und Lernens etabliert haben und ihre Organisation entsprechend auf- oder umgebaut haben, werden von AI-Agents profitieren können.

Ihre Feedback-Schleife wird noch kürzer: sie bekommen schneller Feedback und können darauf, und auf Änderungen in der Geschäftsumgebung, noch schneller reagieren. Sie können ihr antifragiles Tüfteln ([2]: Taleb, 2012) beschleunigen und die Anzahl der Experimente, die sie in einem bestimmten Zeitraum durchführen können, maximieren. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in diesem Zeitraum einen großen Erfolg in Form eines positiven schwarzen Schwans landen, erheblich.

Die Gefahr: AI ohne organisatorische Reife

Unternehmen, die diese Kultur und Praktiken noch nicht oder nur in Ansätzen übernommen haben, drohen jedoch bald vollständig abgehängt zu werden. In solchen Organisationen hilft es auch nicht, den Entwicklungsteams agentische AI-Tools in die Hände zu geben.

Ja, dies wird diese Teams in die Lage versetzen schneller zu entwickeln. Aber ist das Ihr Bottleneck? Kommen Sie dann noch hinterher damit, neue Anforderungen zu formulieren, umgesetzte Features zu testen und abzunehmen und diese in Betrieb zu nehmen?

Nein, agentische AI löst nicht das Problem, von modernen Technologieunternehmen und Startups abgehängt zu werden und hilft Ihnen nicht dabei aufzuholen.

Lehren aus der Geschichte: Technologie verändert Organisationen

Wie [3]: Reinertsen (1997) am Beispiel der Einführung von CAD-Systemen im Design-Engineering zeigte, beeinflusst die Einführung einer neuen Technologie immer auch die Prozesse und Struktur einer Organisation. Wer dies nicht zulässt, wird von der neuen Technologie nicht wirklich profitieren können.

Es gilt also, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen und zunächst einmal an den DORA-Fähigkeiten zu arbeiten, welche ein Klima des Lernens, einen schnellen Flow und schnelles Feedback ermöglichen. Das beinhaltet einige technische Fähigkeiten, erfordert aber zwingend auch Änderungen der Kultur, der Organisationsstruktur und der Prozesse.

Agency als Schlüsselkonzept

Mein Kollege Hermann Schmidt wies bereits kürzlich in seinem Blogpost zum Versprechen der Agenten auf die Bedeutung des Wortes Agentic hin:

Agentic ist das Adjektiv zu agency, das in Deutsch kein Äquivalent hat. Agency umfasst die Begriffe Handlungsfähigkeit, Autonomie und Akteurschaft

Haben Ihre Teams überhaupt Agency? Wenn man zustimmt, dass AI-Agents die Softwareentwicklung beschleunigen, weil sie eben Agency haben, dann sollte es einleuchten, dass es auch Teams mit Agency braucht.

Fazit

Damit Sie von der schnelleren Umsetzung mithilfe von AI-Agents profitieren können, brauchen Sie auch schnelle, lokale Entscheidungen — also selbst-organisierte, autonome Produkt-Teams, welche alle notwendigen Kompetenzen bündeln, Zugang zu allen relevanten Informationen haben und eigenverantwortlich auf Chancen und Feedback reagieren können.

Das ist alles nichts Neues. Aber angesichts dessen, dass in dieser Hinsicht oft noch Verbesserungsbedarf besteht, AI-Agents aber gerne als die alleinige Lösung aller Probleme gesehen werden, ist es doch wichtig darauf hinzuweisen: Sind die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, wird AI keine große Hilfe sein. Oder anders gesagt: Erst wirklich agil werden und selbst Agency entwickeln, dann Software-Agenten einsetzen.

  1. Nicole Forsgren, PhD, Jez Humble, Gene Kim (2018). Accelerate: The Science of Lean Software and DevOps: Building and Scaling High Performing Technology Organizations. IT Revolution  ↩

  2. Nassim Nicholas Taleb (2012). Antifragile: Things That Gain from Disorder. Random House  ↩

  3. Donald G. Reinertsen (1997). Managing the Design Factory. Free Press  ↩