Teil 1 - Was macht eine gute Retro aus?
Teil 2 - Visuelle Abfragen
Teil 3 - Universelle Kategorien
Teil 4 - Freie Fragen und 5 Why
Teil 5 - Zerstören und Ein Tag für die Tonne
Teil 6 - Timeline
Teil 7 - Abschließende Tipps

Scrum ist es zu verdanken, dass Retrospektiven (Retros) regelmäßig und im Abstand einiger Wochen durchgeführt werden. Der Zweck der Retros in Scrum ist Inspektion und Anpassung (inspect and adapt). Die Effizienz von Teams soll erhöht, und der Entwicklungsprozess verbessert werden.

Retros werden oft auf das simple Schema “was lief schlecht, was lief richtig, was sollten wir anfangen zu tun” (stop doing, keep doing, start doing) reduziert. Obwohl dies eine brauchbare Methode ist und besser als gar keine Retro, geht es doch viel abwechslungsreicher und interessanter.

Meine größten Inspirationen kamen aus den Büchern The Six Thinking Hats von Edward de Bono und The Skilled Facilitator von Roger Schwarz. Wichtig auf meinem Weg war auch die Ausbildung zum Innovation Facilitator durch das Verrocchio Institute. Retrospective Antipatterns von Aino Vong Curry und das scheinbar fachfremde Never Split the Difference von Chris Voss gaben mir wichtige Impulse.

Weil Scrum hier weiter keine Rolle spielt, verwende ich den übergreifenden Begriff des Facilitator. Ein Scrum Master ist ein Facilitator mit spezifischem Aufgabenspektrum.

Es gibt nicht die eine, universelle Retro. Ich möchte folgende Varianten auseinanderhalten:

Ich befasse mich hier hauptsächlich mit der ersten Variante. In späteren Folgen stelle ich Formate vor, die für andere Anlässe funktionieren.

Ist die Retro in den laufenden Prozess eingebunden, können wir sie nicht isoliert betrachten. Prozess und Retro sind aufeinander abgestimmt. In Scrum nehmen Retros Bezug auf den vergangenen Sprint. Ich persönlich halte inzwischen nichts mehr von der Sprinterei und bevorzuge kontinuierliche Prozesse, die Wert auf gleichmäßigen Fluss legen. Wenn Sie wollen, können Sie das Kanban-Etikett drankleben.

In meinen Teams habe ich die Abstände der Retros auf bis zu eine Woche reduziert. Warum soll man länger warten, um Angelegenheiten zu besprechen? Kurze Zyklen und Feedbackschleifen sind für Retros genauso gewinnbringend wie für alles andere. Außerdem kann so die Retro kürzer sein, und falls sie mal nicht fertig werden sollte, wird einfach nächstes Mal nahtlos weitergemacht. Nach einer Woche ist alles noch präsent in den Köpfen, nach zwei Wochen wird es bereits schwieriger.

Der Rahmen wäre geklärt, kommen wir jetzt zu meinen sieben Grundsätzen.

  1. Die Retro ist ergebnisoffen. Eine gute Retro zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie möglichst viele To-dos an Personen verteilt oder unbedingt ein bestimmtes Thema behandelt. Hier stelle ich mich bewusst gegen den Effizienz-Zwang, der gerne auf Retros ausgeübt wird, und den ich mir anfangs selbst auferlegte, weil ich es nicht anders kannte. Es muss einen Raum geben, wo es nicht darauf ankommt, effizient zu sein, sondern wo Platz für alle möglichen Bedürfnisse und Themen ist.
  2. Ist etwas wichtig, kommt es von selbst wieder. Wenn das Team zu einer gemeinsamen Einsicht kommt, braucht es keine zusätzliche Aufforderung zur Handlung. Wenn etwas wenig Relevanz hat oder die Einsicht fehlt, verschwindet es wieder. Als Facilitator muss ich diese Dinge nicht nachverfolgen, weil das Team sie nicht vergessen wird, wenn sie wichtig sind. Meine Teams haben relevante Themen immer freiwillig erledigt, weil sie diese selber identifizierten und gemeinsam zu einer Einsicht kamen. Ich arbeite nicht wie mit einer Schulklasse, die ich in jeder Retro nach ihren Hausaufgaben frage. Es geht nicht darum, Arbeit an Personen zu verteilen. Weil die Retros in kurzen Abständen laufen, gibt es immer genügend Gelegenheiten, ein Thema anzusprechen. Falls es notwendig sein sollte, auch mehrfach.
  3. Es gibt nur ein Backlog. Eine Retro erzeugt kein zweites Backlog mit Aufgaben, für das der Facilitator verantwortlich ist. Einigt sich das Team auf eine notwendige Aktivität, wird diese ins Backlog eingepflegt und wie gewöhnlich priorisiert. Andere Vereinbarungen brauchen gar kein Tracking und werden einfach bei nächster Gelegenheit zum Beispiel im Daily oder Refinement ausprobiert.
  4. Retros sind ein Instrument, um in die Zukunft zu schauen. Das klingt paradox! Die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern. Die Zukunft ist noch offen. Die Absicht einer Retro muss deshalb immer sein, die Zukunft zu formen. Sich mit dem Verständnis der Vergangenheit zufrieden zu geben, ist zu wenig. An diese Einstellung sollten Sie sich und das Team regelmäßig erinnern.
  5. Negatives immer ins Positive drehen. Es gibt immer etwas zu meckern. Das ist erlaubt und soll auch nicht unterdrückt werden. Eine Retro darf aber nie das Negative stehen lassen. Es muss immer der Versuch unternommen werden, das Problem zu lösen. Sollte es außerhalb der Kontrolle des Teams und vorerst unlösbar sein, dann muss wenigstens eine Pflichtübung gemacht werden: Eine positive Veränderung beschreiben und ein Wunschbild formen. Wer mit etwas nicht einverstanden ist, braucht nicht unbedingt einen Lösungsweg parat haben, muss aber wenigstens beschreiben, wie es besser sein soll.
  6. Die Retro fördert Dialoge. Wenn man einer Gruppe von Personen ein gemeinsames Ziel gibt, heißt das noch lange nicht, dass die Gruppe sich routiniert miteinander beschäftigt und so zu einem richtigen Team wird. Offene und vertrauensvolle Dialoge zu führen, wird in der Retro praktiziert und ist eine aktive Teambuilding-Maßnahme. In Zeiten von Remote-Arbeit ist das wichtiger denn je.
  7. Die Retro deckt Spannungen auf. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe überhaupt. Die Formate sind so gewählt, dass sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Zusammenarbeit des Teams beleuchten. Missverständnisse, unterschiedliche Auffassungen und unerfüllte Bedürfnisse werden so regelmäßig und routiniert aufgedeckt und besprochen.

Die letzten zwei Grundsätze betonen, dass ein Team nur so gut funktioniert wie die Beziehungen untereinander. Diese Beziehungen gilt es kontinuierlich zu pflegen.

Retros dienen letztlich wie andere Prozess-Routinen und Arbeitsmittel (z.B. Daily und Backlog) einem gemeinsamen Zweck: die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche lenken. Was ist jetzt wichtig, wer benötigt Unterstützung, wo hakt es, welche Blockaden gibt es, was hat sich verändert? Das Thema Aufmerksamkeitslenkung wäre einen eigenen Blogpost wert. Ich denke, Sie verstehen, worauf ich hinaus will.

Das sollte als Grundlage genügen. Beginnend mit dem nächsten Beitrag stelle ich Ihnen der Reihe nach verschiedene Formate vor.