Beginnen wir mit einer (wahren) Geschichte:
Ole und Franz zeigten schon als Kinder unternehmerisches Geschick: Von Nachbarn und der Verwandtschaft sammelten sie Kerzenreste, die sie in der heimischen Küche einschmolzen und zu bunten neuen Kerzen verarbeiteten.
Diese sehr individuellen Kunstwerke verkauften die beiden primär an ihre Verwandten - insbesondere die Großeltern erwiesen sich dabei als wahre Groß-Kund:innen. Zusätzlich wirkte die klassische Haustür-Akquise in der Nachbarschaft und im Freundeskreis als Umsatz-Booster. Die Versuche, auf Schulfesten zu noch mehr Reichtum zu gelangen, erwiesen sich aus Mangel an Schulfesten allerdings als Irrweg.
Dieses vereinfachte Beispiel zeigt bereits viele der Elemente, die jedes Geschäftsmodell strukturieren – ganz unabhängig von Unternehmensgröße oder Branche.
Eine solche Geschichte könnten wir auch über andere Geschäftsmodelle erzählen, beispielsweise die Wandlung eines DVD-Video-Verleihs namens Netflix zu einem der größten Anbieter von Video-Streaming weltweit. Genau darum geht es hier: Wie erklären wir Geschäftsmodelle, strukturiert und nachvollziehbar?
Schlüsseln wir mal das Kerzen-Beispiel auf:
- Key Activities: Kerzenreste sammeln und zu neuen Kerzen aufbereiten.
- Key Resources: Kerzenreste, ein alter Topf und ein Herd.
- Value Proposition: Die neuen Kerzen sind handgefertigte Unikate.
- Customer Segments: Verwandte und Nachbarn
- Customer Relationships: die Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen
Warum Geschäftsmodelle?
"Das Geschäftsmodell ist das Herzstück jeder erfolgreichen Innovation.“ Henry Chesbrough
Ein Geschäftsmodell erklärt, wie ein Unternehmen systematisch Wert schafft und liefert.
Eine solche Beschreibung legt die Grundlage für den Entwurf von Unternehmungen oder auch Projekten innerhalb bestehender Organisationen: Was wollen wir zukünftig mit welchen Aktivitäten und Ressourcen tun, um Mehrwert für das Unternehmen zu erwirtschaften? Wie erreichen wir welche Kunden, wofür entstehen Kosten? Explizite Antworten auf diese Fragen ermöglichen konstruktive Diskussionen und Verbesserungen von Geschäftsmodellen oder Projektvorhaben.
Zudem helfen solche Geschäftsmodelle beispielsweise bei Investitionsentscheidungen: Vor einer größeren Investition ergibt es Sinn, verschiedene Geschäftsmodelle (aka Unternehmungen) zu vergleichen und zu bewerten.
Für diese beiden Einsatzgebiete haben um 2005 Alex Osterwalder und Jaques Pigneur den so genannten “Business Model Canvas” (kurz: BMC) erfunden: Der BMC stellt Geschäftsmodelle übersichtlich auf einer einzigen Seite dar. Größe und Anordnung der einzelnen Teile gibt der BMC vor. Das macht Geschäftsmodelle verständlich und vergleichbar.
In IT-Projekten hilft der BMC als Einstieg in die Entwicklung von Systemen sowie das ganzheitliche Requirements-Engineering.
BMC erzählt eine Geschichte
Der BMC erzählt eine Geschichte: Mit Hilfe von Partner:innen und dem Einsatz bestimmter Ressourcen (Dienste, Dinge) führen wir gewisse Aktivitäten durch, um Werte zu schaffen (Value Propositions). Dazu müssen wir in der Regel einige Dinge oder Dienste einkaufen, was uns Kosten verursacht.
Diese Werte (Dienste oder Dinge) bringen wir über bestimmte Kanäle und Beziehungen zu unseren Kundensegmenten, wodurch wir dann Erträge erzielen können.
Die folgende Abbildung zeigt das Beispiel von Airbnb, daran können Sie die Bedeutung der einzelnen Segmente des BMC gut erkennen:
(Anmerkung: Diesen Canvas haben wir selbst entworfen, er ist nicht mit der Firma Airbnb abgestimmt.)
Neun Segmente
Der Business Model Canvas ist wie ein Kompass für Unternehmen – es zeigt alle wichtigen Richtungen auf einen Blick. Die neun Bausteine bilden ein System, in dem jedes Element die anderen beeinflusst. Stellen Sie sich vor, Sie betrachten ein Unternehmen durch neun Fenster, die jeweils einen anderen, aber essentiellen Blickwinkel eröffnen.
Kunden und Kundensegmente stehen im Zentrum jeder Geschäftsidee. Die Frage ist: “Wer sind die wichtigsten Kunden und Kundengruppen?” Diese Segmentierung hilft, Ressourcen fokussiert einzusetzen und spezifische Bedürfnisse zu adressieren. Wenn man diese Frage beantworten will, sollte man auch darüber nachdenken, wer kein Kunde ist bzw. sein sollte.
Die Wertangebote definieren den Kern des Geschäfts: “Welche Produkte oder Dienstleistungen erfüllen Kundenbedürfnisse?” Hier geht es um den Mehrwert, den ein Unternehmen schafft. Ein starkes Wertangebot unterscheidet erfolgreiche von weniger erfolgreichen Unternehmen.
Kanäle beschreiben die Brücken zwischen Angebot und Kunden. Die Frage “Über welche Wege erreichen Angebote die Kunden?” ist entscheidend, denn das beste Produkt nützt nichts, wenn es die Zielgruppe nicht erreicht.
Kundenbeziehungen definieren die Art der Interaktion: “Wie pflegt das Unternehmen die Kundenkontakte?” Diese Beziehungen können von automatisierten Systemen bis hin zu persönlicher Betreuung reichen. Sie bilden das Fundament für Vertrauen und Loyalität.
Die Einnahmequellen beantworten die existentielle Frage: "Wie erzielt das Geschäftsmodell Umsätze und Erträge? Sie treiben als Motor das gesamte Unternehmen an. Ohne nachhaltige Einnahmequellen bleibt auch die beste Geschäftsidee nur ein Luftschloss.
Schlüsselressourcen sind Ressourcen, die für das Geschäftsmodell essenziell sind: “Welche Ressourcen benötigen Produktion und Betrieb?” Diese können physisch, intellektuell, personell oder finanziell sein.
Schlüsselaktivitäten fokussieren auf die wichtigsten Aufgaben: “Welche zentralen Aufgaben sichern den Erfolg?” Diese Aktivitäten müssen perfekt funktionieren, damit das Gesamtsystem läuft.
Schlüsselpartner erweitern die Möglichkeiten: “Wer unterstützt das Geschäftsmodell effektiv?” Partnerschaften können Risiken reduzieren, Ressourcen erweitern oder neue Märkte erschließen.
Die Kostenstruktur rundet das Bild ab: “Welche Kosten entstehen?” Sie zeigt die finanzielle Realität des Geschäftsmodells auf und bildet die Grundlage für die Bewertung der Rentabilität.
BMCs als Entscheidungshilfe
Der Business Model Canvas entfaltet seine größte Wirkung dort, wo Unsicherheit und Komplexität herrschen – insbesondere bei neuen Vorhaben oder der Erweiterung bestehender Geschäftsmodelle. In diesen Situationen fungiert es als strukturiertes Denkwerkzeug, das hilft, aus der Ideenflut klare Strategien zu destillieren.
Entscheider:innen haben oft eine Vision, aber der Weg dorthin ist selten klar definiert. Das Canvas zwingt sie dazu, ihre Annahmen zu strukturieren und zu hinterfragen: Wer ist wirklich bereit, für die Lösung zu bezahlen? Welche Kanäle erreichen die Zielgruppe am effektivsten? Diese systematische Herangehensweise verhindert, dass wichtige Aspekte übersehen werden, und macht verborgene Abhängigkeiten sichtbar.
Bei der Erweiterung bestehender Geschäftsmodelle wirkt das Canvas als Brücke zwischen dem Bekannten und dem Neuen. Etablierte Unternehmen können ihre bewährten Elemente identifizieren und gleichzeitig erkennen, welche Anpassungen für neue Märkte oder Produkte erforderlich sind.
Das Canvas fördert zudem die iterative Entwicklung von Geschäftsmodellen. Statt einer starren Planung ermöglicht es eine agile Anpassung basierend auf Marktfeedback und neuen Erkenntnissen. Diese Flexibilität ist in dynamischen Märkten überlebenswichtig.
BMC für Transformationsprojekte
Strategische Transformationen gehen weit über rein technische Projekte hinaus: Sie können Geschäftsmodelle grundsätzlich beeinflussen. Hier offenbart der Business Model Canvas eine weitere Stärke als pragmatisches Instrument zur Unterstützung solcher Vorhaben.
Der Schlüssel liegt in der frühzeitigen Identifikation von Business-Zielen. Erfolgreiche Transformationsprojekte schaffen es, Konflikte, die durch unklare oder widersprüchliche Geschäftsziele entstehen, aufzulösen. Das Canvas hilft allen Beteiligten dabei, diese Ziele explizit zu formulieren: Soll die Transformation Kosten reduzieren? Neue Kundengruppen erschließen? Prozesse verschlanken? Diese Klarheit wirkt wie ein Kompass, der das Transformationsteam durch komplexe Entscheidungen navigiert.
Gleichzeitig bietet eine Transformation die seltene Gelegenheit zur kritischen Reflektion etablierter Prozesse. Das Canvas fungiert dabei als neutraler Moderator, der alle neun Dimensionen des Geschäftsmodells zur Diskussion stellt. Fragen entstehen natürlich: Erreichen wir unsere Kunden noch über die richtigen Kanäle? Verfügen wir über zeitgemäße Schlüsselpartner? Entspricht unsere Kostenstruktur den neuen Möglichkeiten?
Diese konstruktive Hinterfragung geht über reine Effizienzsteigerungen hinaus und besitzt dadurch besonderen Wert. Sie kann zu strategischen Innovationen führen: Neue technische Möglichkeiten schaffen vielleicht direktere Kundenbeziehungen, effizientere Kanäle oder neue Einnahmequellen. Das Canvas hilft, diese Potenziale systematisch zu identifizieren und zu bewerten.
Der Business Model Canvas hilft so, rein technische “Lift-and-Shift”-Vorhaben zu strategischen Transformationen zu wandeln. Es schafft eine gemeinsame Sprache zwischen IT und Business und stellt sicher, dass technische Entscheidungen stets im Kontext der Geschäftsziele getroffen werden.
Einsatz in IT-Projekten
In der Praxis zeigt sich: Ein gemeinsam erarbeiteter BMC bringt Klarheit – vor allem an Schnittstellen zwischen IT und Business. Er hilft, technische Diskussionen zu erden und sorgt dafür, dass Systemarchitektur und Business-Ziele aufeinander einzahlen. Wer frühzeitig im Projekt die Elemente des BMC explizit macht, sorgt für klare Zielvorstellung und erreicht nachhaltigere Ergebnisse.
Auf Basis des BMC können Teams konkrete Anforderungen an IT-Systeme ableiten. Der BMC strukturiert die (high-level) Ziele, für Entwicklungsprojekte bedarf es der Verfeinerung. Eine pragmatische Option bietet der “Architecture Inception Canvas” (siehe [3] und [4]) mit starkem Fokus auf Requirements.
Fallstricke
So nützlich ein abgestimmter BMC sich für die Kommunikation von Geschäftsmodellen erweist - in der Praxis von IT-Projekten drohen einige Fallstricke:
- Inhalte bleiben zu vage. Vorsicht bei Allgemeinplätzen wie “hochwertiger Produkte” oder “ausgezeichneter Service”.
- User Stories oder Architekturziele ignorieren den BMC, insbesondere die Value-Proposition oder die Kernaktivitäten. Hier sollten Requirements-Engineering und Product-Owner strikt darauf achten, sowohl Ziele wie auch funktionale Anforderungen am BMC zu orientieren.
- Technische Stakeholder können den BMC auf rein technische Lösungs-Aspekte reduzieren.
Fazit
Der BMC zeigt die Richtung an, aber der Weg muss noch selbst erkundet werden. Als strukturierter Einstiegspunkt schafft er die notwendige Klarheit über Ziele, Zielgruppen und Wertversprechen – die Grundlage für alle weiteren Detailentscheidungen.
Denken Sie an Ole und Franz mit ihren Kerzen: Ohne ein klares Verständnis ihrer Kunden (Großeltern und Nachbarn), ihres Wertangebots (handgefertigte Unikate) und ihrer Schlüsselaktivitäten (Sammeln und Aufbereiten) wären sie vermutlich bei vagen Experimenten stecken geblieben. Der BMC hätte ihnen geholfen, systematisch zu erkennen, warum Schulfeste der falsche Kanal waren und wie sie ihre Stärken besser nutzen können.
Ein gut durchdachter BMC zu Projektbeginn ist wie ein solides Fundament für ein Haus: Fehler hier wirken sich auf alles aus, was darauf aufbaut. Teams, die mit einem gemeinsam erarbeiteten Canvas starten, vermeiden kostspielige Kursänderungen und Missverständnisse später im Projekt. Sie haben eine gemeinsame Sprache und ein geteiltes Verständnis der Geschäftsziele.
Der Canvas ist jedoch nur der Anfang. Von dieser strategischen Landkarte aus müssen Teams in die Details einsteigen: User Stories schreiben, Architekturen entwerfen, Requirements verfeinern. Werkzeuge wie der Architecture Inception Canvas können dabei helfen, die Brücke zwischen Geschäftsmodell und technischer Umsetzung zu schlagen.
Quellen
[1] Die Erfinder des BMC bieten bei Strategyzer Downloads, Videos und weitere Infos rund um diese mother of all canvases an.
[2] Business Model Generation: Alex Osterwalder und Jaques Pigneur. Das Buch schlechthin zum Thema BMC. Neben dem Inhalt brilliert dieses Buch auch durch innovatives Layout und aufwändige grafische Gestaltung.
[3] Architecture Inception Canvas (AIC, entwickelt von Patrick Roos): Open-Source, frei verfügbar unter https://canvas.arc42.org. Wir nennen den in der Praxis gerne “Requirements Canvas”, ideal geeignet als strukturierte Vorlage bei z.B. Projekt-Kickoffs. Zum AIC findet sich in unserem Canvas-Primer [4] eine kompakte Einführung.
[4] Canvas-101, One-Pager für bessere Dokumentation. Markus Harrer, Anja Kammer, Lena Kraaz, Jörg Müller, Patrick Roos, Gernot Starke und Benjamin Wolf. Frei verfügbar bei INNOQ.