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Eine Pistole wird abgefeuert. Doch statt den Lauf zu verlassen, zischt die Patrone zurück ins Magazin. Die Staubwolken entweichen in klarer Luft. Splitter strömen auf das Einschussloch in der Wand zu und verschließen es zu einer unberührten Fläche. Als wäre nichts geschehen. Diese Szene aus Christopher Nolans Film „TENET“ zeigt etwas Unmögliches: reversible Entropie. Unordnung wird zu Ordnung. Die Wirkung eliminiert das Handeln.

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Wir alle wissen, die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Ist eine Kugel erst einmal abgeschossen, wird sie etwas treffen. Ist ein Ei erst einmal zu Rührei verarbeitet, lassen sich Eigelb und Eiweiß nicht mehr trennen[1]. Ist eine Technologie erst einmal entwickelt, wird sie auch benutzt. Unser Handeln hat also eine Wirkung. Wir hinterlassen Spuren und Pfade, auch mit scheinbar kleinen Entscheidungen und schnellen Lösungen. Eine Tatsache, die uns im Alltag, im sogenannten Eifer des Gefechts, oft nicht bewusst ist.

Doch wie schaffen wir es, bewusster auf unser Handeln bzw. auf unsere Arbeit und vor allem deren Wirkung zu blicken – abseits vom Tagesgeschäft?

Von innen heraus ist es oft schwer, die Perspektive zu wechseln. Uns fehlt schlicht und einfach der Abstand.

Wie uns Kunst hilft, den Tellerrand zu verlassen

Der „Blick von außen“ war einer der Hauptgründe, vor ca. drei Jahren unsere Medienkunst-Kollaboration zu starten. Die Idee hinter der engen Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern: Sie ermöglichen uns einen neuen Blick auf unsere Arbeit, wir steuern unser technisches Know-how und unsere Erfahrung bei. So entsteht jährlich ein außergewöhnliches Kunstprojekt, das inspiriert, reflektiert und bei dessen Umsetzung wir sehr viel lernen können. Nicht nur technologisch, sondern auch über uns. Ganz nebenbei gibt das Kunstwerk unseren Kommunikationsmitteln Jahr für Jahr ein neues, unverwechselbares Erscheinungsbild, ohne dessen Wiedererkennbarkeit zu gefährden.

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Während sich das Kunstwerk “Vertigo in The Face of the Infinite” aus der INNOQ Digital Art Edition 01 mit der Informationsflut unserer Internet-Kultur auseinandergesetzt hat, widmet sich die Edition 02 – in Kollaboration mit dem Studio Waltz Binaire – einem anderen aktuellen Thema: Künstliche Intelligenz.

Christian Mio Loclair zeigt uns im ersten gemeinsamen Workshop in den Büroräumen von Waltz Binaire Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz im Kontext Kinetik
Christian Mio Loclair zeigt uns im ersten gemeinsamen Workshop in den Büroräumen von Waltz Binaire Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz im Kontext Kinetik

Das Berliner Studio beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit dem Thema Design und Künstliche Intelligenz bzw. deren Visualisierung. Auch bei INNOQ setzen wir uns immer mehr mit KI und Machine Learning auseinander, allerdings mit ihrem sinnvollen Einsatz bei unseren Kunden und Projekten. Beste Voraussetzungen also für einen spannenden Diskurs.

Der Weg ist interessanter als das Ziel

Am Anfang stand die Frage: Was passiert eigentlich mit der Technologie, die wir erschaffen? Und wie können wir das visualisieren?

Die Umsetzungsidee klingt zunächst banal: Lass uns versuchen, eine humanoide Figur eine Bewegung lernen zu lassen. Genauer gesagt, die Figur sollte in einem künstlichen Raum mit selbstgewählten Möglichkeiten ein bestimmtes Ziel erreichen. Was dann passiert ist, bringt uns zu eingangs erwähnter Entropie zurück.

Zum allgemeinen Verständnis: Der Begriff Entropie stammt ursprünglich aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und wird oft – etwas zu vereinfacht – mit „Unordnung“ gleichgesetzt. Oder um es mit den Worten des Astrophysikers und Wissenschaftsjournalisten Harald Lesch zu sagen:

Entropie ist eine Aussage über die Anzahl der Möglichkeiten in einem physikalisch gewählten Raum.

Das Spannende war nämlich, dass die Figur mit ihren Gliedmaßen zwar einem menschlichen Wesen glich, sie aber aus unzähligen Möglichkeiten der Fortbewegung wählen konnte und dies auch tat. Das wirkte teilweise befremdlich, monströs, manchmal unbeholfen, immer überraschend.

Eine frühe Variante der Figur während ihres Lernprozesses

Mithilfe unserer Technologie haben wir also einen Lernprozess gestartet. Wir haben dieser Figur bestimmte Fähigkeiten mitgegeben. Wie und auf welche Weise sie diese auch nutzt, darauf hatten wir keinen Einfluss. Hatten wir etwa ein Entropiemonster erschaffen? Und vor allem: Bringen wir in alltäglichen Projekten auch solche Monster hervor? Und falls ja – ist das schlimm? Oder können wir daraus etwas lernen?

So war bald klar, dass für die Beantwortung unserer Frage(n) und für deren Visualisierung nicht die Figur an sich interessant war, sondern ihre ungewöhnlichen Bewegungsmuster. Der Titel des Kunstwerks war geboren:

NEUROEVOLUTIONARY TRAILS

Der erste Teil des Titels bezieht sich auf die Funktionsweise der selbstlernenden Künstlichen Intelligenz. Mithilfe neuronaler Netze bzw. mit zugrunde liegenden neuroevolutionären Algorithmen lernt sie sich selbständig durch den Raum zu bewegen. Die Herausforderung für Waltz Binaire war es nun, die dadurch gewonnenen Geometriedaten in eine anspruchsvolle Visualisierung umzusetzen. Die Entscheidung fiel auf drei Darstellungsformen: SURFACES ähnelt einer tuchartigen, weich fließenden Oberfläche; bei SPLINES strömen Linien wellenartig durch den Raum und bilden Silhouetten und Konturen; ELEMENTS mutet an wie eine dreidimensionale topografische Darstellung der Spuren.

SURFACES x SPLINES x ELEMENTS
SURFACES x SPLINES x ELEMENTS

Keine Angst vor dem Entropiemonster

Den Lernprozess unserer Figur, die wir intern liebevoll „Entropiemonster“ nannten, bezeichnet man auch als Reinforcement Learning, also Bestärkendes Lernen. In wenigen Worten zusammengefasst: „Löse ein Problem, mit dem, was du kannst.“ Ehrlich gesagt, hat uns das sehr an unsere tägliche Arbeit erinnert. Ist es bei der agilen Software-Entwicklung nicht ähnlich? Erst im Verlauf eines Projektes erkennt man, dass verschiedene Abbiegungen, Kurven oder Umwege nötig sind, um letztendlich das Ziel zu erreichen. Man könnte fast sagen: Wir sind diese Figur!

Auch wir haben bestimmte Aufgabenstellungen und ein bestimmtes Repertoire – also eine Anzahl der Möglichkeiten, um sie zu lösen. Dazu gehören zum Beispiel bestehende Technologien, unsere Kreativität (um zur Verfügung stehendes möglichst sinnvoll zu nutzen oder etwas ganz Neues zu entwickeln) und manchmal hilft uns auch der Zufall. Wie bei unserer Figur produzieren also auch unsere Projekte, sind sie erst einmal angestoßen, extrem viel Entropie. Aber sind sie deshalb auch Entropiemonster? Wohl eher Entropie-Gewinner oder -Nutznießende.

Stiftet eine Technologie Wert oder folgt sie nur dem Selbstzweck?

Doch kommen wir zurück zu den Spuren, die auch unsere Arbeit und die von uns entwickelten Technologien zweifelsohne hinterlassen. Beinahe täglich treffen wir Technologie-Entscheidungen. Deshalb sollten wir uns auch jeden Tag fragen, ob diese Technologie wertstiftend ist oder ob sie nur einem Selbstzweck folgt. Verwenden wir Machine Learning nur, weil es cool klingt oder weil es unsere Kundinnen und Kunden wirklich weiterbringt? Und wir alle wissen, dass auch kleine Entscheidungen große Folgen haben können. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, unsere technischen Schulden so gering wie möglich zu halten. Das fängt bei der Auswahl der Software an: ist sie zukunftssicher, spart sie Geld und Zeit, kann sie international verwendet werden, ist sie skalierbar, ist sie barrierefrei, etc.

Wir müssen jede Entscheidung von verschiedenen Seiten und auch in verschiedenen Umfeldern betrachten. Denn an einer Stelle ist Technologie nützlich, an ganz anderer vielleicht sogar gefährlich. Und dann bekommen wir die Kugel nicht mehr zurück in den Lauf. Das Loch in der Wand bleibt. Als Schöpferinnen und Schöpfer von Technologie tragen wir Verantwortung. Lasst uns deshalb alle dafür sorgen, dass unsere technologischen Spuren ebenso ästhetisch sind wie unsere NEUROEVOLUTIONARY TRAILS.

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Mitwirkende

Visualisierung
Margot Hofmans, Waltz Binaire

Geometriedaten und Modellentwicklung
Burkhard Neppert, INNOQ

Musik
Christian Losert

Beratung und Reportage
Julian Adenauer, Retune


Literatur und Referenzen

  1. Katie Mack: The End of Everything (Astrophysically Speaking), 2020  ↩

Fazit

Fazit

Unsere Medienkunst-Kollaboration zeigt uns also nicht nur, wie ästhetisch Technologie sein kann. Kunst hilft uns auch, eine neue Technologie begreifbar zu machen. Die NEUROEVOLUTIONARY TRAILS machen uns zudem unsere gesellschaftliche Verantwortung bewusst. Und noch etwas Entscheidendes können wir aus diesem Projekt lernen: Unordnung ist wahrscheinlicher als Ordnung. Statt uns darüber aufzuregen, sollten wir dies als Chance begreifen, auch ungewöhnliche Wege zu gehen und neue Lösungen zu finden. Statt dem Entropiemonster zu entfliehen, sollten wir es uns zum Freund machen. Solange wir selbstreflektiert bleiben, kann uns nichts geschehen.